Mens sana in corpore sano
Rund um das Nordic Walking
„In einem gesunden Körper (wohnt) ein gesunder Geist“. Wer kennt nicht dieses Credo aller Sportbegeisterten: Sein Erfinder, der römische Satiriker Decimus Junius Juvenalis (60-140 nach Chr.), wollte damit die Hoffnung ausdrücken, die Götter möchten ihm im Alter seine geistigen und körperlichen Kräfte erhalten. Dieser Wunsch gewinnt in einer Zeit, in der die Lebenserwartung der Menschen stetig zunimmt, vermehrt Bedeutung. Doch reicht es aus, sich an die Götter zu wenden?
Eines Tages meinte meine Frau, ich sollte mich mehr bewegen. Seit ich Pensionär sei, würden sich meine Aktivitäten auf Sportsendungen im Fernsehen und auf Surfen im Internet beschränken. Ich muss zugeben, dass ich viele Stunden am Tag vor meinen Bildschirmen verweilte. Auch aus Sparsamkeit, denn schließlich musste ich meinen Premiere-Sportkanal und meine Flatrate (die Leitung für grenzenloses Surfvergnügen) ausnutzen. Ich verbrachte meine Zeit aber auch mit anderen Tätigkeiten. Zum Beispiel mit Lesen in den Wartezimmern meiner Ärzte, die ich wegen meiner zahlreichen Wehwehchen um Rat fragte und um Rezepte bat.
Meine Frau ließ nicht locker und schlug vor, dreimal in der Woche einen Bewegungstag einzulegen, und zwar mit Nordic Walking, der neuen Trendsportart für Zeitgenossen jeglichen Alters und Geschlechts.
„Ausgerechnet Nordic Walking. Du weißt doch, wie man da veräppelt wird“, wandte ich ein und erinnerte sie an ihre Erlebnisse mit lästernden Zeitgenossen. Sie ist nämlich schon seit Jahren täglich mit einigen Nachbarinnen in professionellem Walking-Outfit unterwegs, stundenlang.
Wir einigten uns darauf, dass wir am folgenden Samstag beginnen wollten. Zuvor musste ich mir ordentliche Schuhe und ein Paar richtige Walkingstöcke kaufen. Gut seien solche aus Glasfiber oder Karbon, meinte sie fachfrauisch, weil damit weniger Vibrationen aufträten als bei solchen aus Aluminium. Als ich das Sportgeschäft wieder verließ, war ich ein kleines Vermögen los, ohne auch nur einen Teil der darüber hinaus obligaten Funktionskleidung zu haben. Eine teure Sportart, dachte ich mir. Ich sollte lieber joggen, wie früher.
Bei diesem Gedanken machte sich plötzlich mein lädiertes Knie bemerkbar, ein Zipperlein von vielen anderen, die sich im Laufe meines gesetzlich angeordneten Ruhestandes eingefunden hatten. Ich sollte erst meinen Hausarzt, meinen Orthopäden und meinen Internisten aufsuchen, bevor ich meinen Körper mit Sport belaste, überlegte ich und sah mich im Geiste schon an einem Herzinfarkt enden, zwischen meinen High-Tech-Walkingstöcken. Wenn ich mich jetzt um Arzttermine bemühen würde, hätte ich eine triftige Ausrede und könnte den nächsten Samstag mit angenehmeren Dingen verbringen als mit Nordic Walking. Darüber hinaus hätte ich einige Wochen Ruhe vor den Drängeleien meiner Frau. Auch als Privatpatient, der ich nun einmal bin (ebenfalls gesetzlich verordnet), stehe ich wie die anderen Patienten auf der Warteliste.
Der Samstag war gekommen, und meine Frau forderte mein Versprechen ein. Wir wollten uns gleich nach dem Aufstehen und völlig nüchtern auf den Weg machen. Das sei die beste Methode, abzuspecken, sagte sie in Anspielung auf mein Übergewicht, das ich mir vor meinen Bildschirmen angefuttert hatte. Natürlich war ich im Laufe der Jahre um die Hüften fülliger geworden und sah im Profil etwas schwammig aus. Dort, wo sich im Idealfall das berühmte Waschbrett zeigen sollte, wölbte sich bei mir ein Waschbärbauch. Ich war damit aber voll im Trend, nachdem ich gelesen hatte, dass die Deutschen immer dicker würden. Das finge schon im Kindesalter an und habe Auswirkungen auf die inzwischen auch bei allen Politikern bekannten PISA-Studien gehabt. Man hatte nämlich festgestellt, dass „ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Gesamtkörperkoordination und der Leistung bei konzentrierter Arbeit“ besteht. Mit einfacheren Worten: Kinder, die sich mehr als andere bewegten, schnitten bei Konzentrationstests besser ab. Es sollte deshalb schon im Kindergarten begonnen werden, unseren Sprösslingen Freude an einer gesunden, aktiven und ganzheitlich orientierten Lebensweise zu vermitteln. Denn sie müssen schließlich bis 67 (oder noch länger) arbeiten, bevor sie ihr Rentnerdasein genießen können.
Obwohl die Hose meines Sportanzugs gewaltig spannte, versuchte ich es erst gar nicht mit Einwänden und wollte meiner Begleiterin jetzt zeigen, dass meine Körperfülle noch kein Hindernis für ein aktives Leben war. Mit den beliebten TV-Gewichten Dieter Pfaff, Otti Fischer, Rainer Hunold und … na, dem ehemaligen Fußballmanager, der jetzt einen Avatar im Internet hat, wähnte ich mich zwar in guter Gesellschaft, fand es aber dann doch nicht so prickelnd, als ich eines Tages einen an mich adressierten Werbeprospekt im Briefkasten fand, der mir „maskuline Männermode … XXL“ (mit den Konfektionsgrößen 58 aufwärts) offerierte. Natürlich ging ich das Nordic Walking nicht völlig unvorbereitet an. Neben meiner Ausrüstung hatte ich mir eines der zahlreichen Fachbücher über diese Sportart gekauft und mich hinreichend informiert. Ich fühlte mich gut präpariert, zumal ich meine theoretischen Kenntnisse immer dann in unserem Garten praktisch vertieft hatte, wenn meine Frau außer Haus war und mich nicht mit ihren besserwisserischen Ratschlägen nerven konnte. Sie sollte keine Gelegenheit haben, sich über meine Technik zu amüsieren. Ich war mir sicher, die Stöcke richtig zu handhaben, auch ohne Kurse. Solche werden Anfängern allerorts für teures Geld empfohlen.
‚Die Ferse flächig aufsetzen … nicht zu lange Schritte … rechter Arm vorn und linkes Bein hinten … Körper leicht nach vorne gebeugt … nicht an, sondern mit den Stöcken gehen … Druck nach hinten ausüben … lang nach hinten ausschwingen … jetzt die Hand öffnen und den Arm nach vorne …’; im Stillen gab ich mir kurze Befehle und schritt rhythmisch voraus.
„Mach lieber nicht so schnell“, meinte meine Frau hinter mir. „Wir haben Zeit“.
Das Tempo bestimme ich … schließlich bin ich der Führer des Trupps … denn Führung ist Männersache …, sagte ich mir, schon etwas kurzatmig. Nach etwa fünf Minuten war es mit meiner Kondition vorbei. Als meine Frau kurz darauf an mir vorbeizog und mich spöttisch-besorgt „na, kannst du noch?“ fragte, hätte ich am liebsten die teuren Karbonstöcke nach ihr geworfen. Dummerweise wimmelte es an diesem Morgen im Wald nur so von Leuten, die meinten, alle zur selben Zeit ihre Hunde ausführen zu müssen.
‚Hoffentlich erkennt mich keiner. Wenn die jetzt auch noch mit blöden Sprüchen wie „haben Sie nicht etwas vergessen? … wo haben Sie denn Ihre Bretter? … aber es liegt doch gar kein Schnee? …“, kommen, kann ich für nichts mehr garantieren’, dachte ich grimmig. Meine Frau entfernte sich immer mehr und war bald meinem Blick entschwunden.
Als ich wieder zu Hause ankam, hatte meine bessere Hälfte bereits geduscht und war dabei, den Frühstückstisch zu decken. Ich verschwand in meinem Arbeitszimmer und steckte mir eine Zigarette an. Nach den ersten Zügen wurde mir speiübel. ‚Mein Gott’, dachte ich, ‚warum habe ich mir diesen körperlichen Stress angetan?’
Um es kurz zu machen. Ich tat es mir die folgenden Tage, Wochen und Monate weiter an, meistens täglich. Meine neue sportliche Betätigung fiel mir immer leichter. Bald hatte ich Spaß am Nordic Walking mit anschließendem Frühstück. Das Rauchen hatte ich aufgegeben, und ich fühlte mich gut wie lange nicht mehr.
Ich brauche jetzt keine Medikamente mehr wegen Bluthochdrucks und erhöhter Cholesterinwerte. Mein Knie und mein Rücken tun nicht mehr weh, und mein Apotheker um die Ecke sieht mich nur noch selten. Er rollt für mich auch nicht mehr wie früher einen roten Teppich aus, wenn ich seinen Laden betrete. Das ist die Strafe auch dafür, dass ich meine nicht verschreibungspflichtigen Medikamente jetzt im Internet kaufe. Dort kosten sie wesentlich weniger.
Natürlich habe ich auch etliche Pfunde verloren und bin damit auf dem besten Weg zu einem Waschbrettbauch. Nun passe ich wieder in meinen zehn Jahre alten Smoking und kann die Offerten für „maskuline Männermode XXL“ getrost in den Papierkorb werfen.
Mens sana in corpore sano. Ich danke den Göttern, dass sie mich durch meine Frau zum Nordic Walking, der idealen Sportart für rührige Ruheständler und andere Aktive, ermutigt haben. Wir werden weiterhin dazu beitragen, das Gesundheitswesen zu entlasten. Wer noch?
Vielleicht die Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen selbst? Vielleicht ... eines Tages. Mit einem sanierten Corpore infolge Abspeckung ihrer Verwaltungsapparate und in Umkehrung des Parkinsonschen Gesetzes1. Dem aus mehreren hundert gesetzlichen Krankenkassen und neuerdings einem monströsen Gesundheitsfonds bestehenden Moloch „Gesundheitswesen“ würde es gut zu Gesicht stehen, an Haupt und Gliedern tatsächlich reformiert zu werden.
Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass sporttreibende Rentner seltener eine Demenz entwickeln, sollte körperliche Betätigung gerade im reiferen Alter öfter auf der Tagesordnung stehen. Dann könnte das Unwort vom „sozialverträglichen Ableben“ endgültig ad acta gelegt werden. Worauf warten Sie also noch?
1 Nach dem Parkinsonschen Gesetz tendieren Verwaltungen dazu, zum Selbstzweck zu werden. Anders ausgedrückt: Verwaltungen haben die Tendenz zur bürokratischen Aufblähung. Dadurch werden sie unwirtschaftlich und teuer. Dies führt letztlich zum Kollaps. |