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"Feeling pur"

„Feeling pur“

Über ein Möbelstück der Spitzenklasse

 

 

Der Kauf eines Möbels oder einer ganzen­­­ Wohnungs­einrichtung muss  gut überlegt werden. Schließlich handelt es sich um sog. langlebige Wirtschaftsgüter, an denen man auch längere Zeit seine Freude haben möchte. Leider tragen die Gewährleistungsfristen diesem Gedanken wenig Rechnung, auch wenn sie inzwischen vom Gesetzgeber auf zwei Jahre angehoben worden sind. Was ist, wenn versteckte Mängel erst danach zutage treten?


„Ein Möbel ist gut, wenn es hochwertig und zeitlos ist“ verkündet der Seniorchef im Internetauftritt eines Einrichtungshauses, das sich „als Problemlöser für ganz individuelle Wohnsituationen“ versteht. Nachdem ich der  Website auch noch entnehmen konnte, dass zahlreiche Stammkunden den individuellen Einrichtungskonzepten dieses Möbelhauses vertrauten und die Serviceleistungen vorbildlich seien, fiel meiner Frau und mir die Entscheidung, uns von unserem altgedienten Wohnzimmerschrank zu trennen, nicht mehr schwer. Das Möbel hatte immerhin fast drei Jahrzehnte auf dem Buckel und einige Umzüge mehr oder weniger gut überstanden, machte aber gemessen an unserem heutigen Geschmack einen eher biederen Eindruck.

Etwas Futuristisches, Leichtes, Luftiges schwebte meiner Frau vor, passend zu der kurz zuvor erstandenen modernen Polstergarnitur.  Mit dieser Vorstellung mach­­­ten wir uns auf den Weg und ließen uns entsprechend der www-publi­zierten Philo­sophie des Unternehmens beraten. Am Ende verließen wir das Einrichtungshaus beglückt mit einem Kaufvertrag in der Hand.

Wir hatten ein Spitzenprodukt deutscher Möbelherstellung, eine Pötter-Regalwand Modell Etano, erstanden und konnten es nun kaum erwarten, dieses Möbelstück aus edlem Holz in den Kreis unserer Familie aufzunehmen. Immer wieder blätterten wir in den Prospekten des Herstellers, in denen uns erwartungsgemäß suggeriert wurde: „Etano ist poetisch und sachlich, dekorativ und funktional … die Antwort auf die Langeweile, die ästhetische Evolution gewohnten Sehens.“ Als wir dann noch lasen, dass „Etano bereit ist, Melodien festzuhalten, die so einmalig sind, wie wir selbst …“, fieberten wir als Musikliebhaber dem Tag der Lieferung regelrecht entgegen.

Die versprochene Sicherheit, dauerhafte Qualität gekauft zu haben, war äußerst beruhigend, denn schließlich sollte uns das neue Möbelstück noch lange Zeit erfreuen. Schon vor seiner Lieferung überlegten wir, wie wir den neuen Einrichtungsgegenstand später erweitern könnten. Eine Verlängerung der Regalwand über Eck schien nach dem Prospektmaterial und den Aussagen unseres Beraters (es war immerhin der Juniorchef der Firma) völlig unproblematisch. Etano war ja ein zeitloses Möbelmodell, ein Produkt aus einem „intelligenten Konzept für die Zukunft“.

Endlich war es soweit. Die als „modernes Möbelprogramm von außergewöhnlicher Schön­heit“­­ ­ an­gepriesene Regalwand stand fertig montiert in unserem Wohnzimmer und harmonierte vorzüglich mit den Polster- und anderen Möbeln.

„Dieses Möbel ist die reinste Inkarnation des mediterranen Soseins im absoluten Einseins“, rief meine Frau aus und fügte ungeachtet meiner verständnislosen Blicke wie ein Wesen aus einer anderen Welt hinzu:  „Nein, diese Inspiration und charmante Leichtigkeit … typisch Pötter.“ Das Werbematerial des Her­stellers zeigte offenbar seine Wirkung. „Siehst du, wie leicht und schwerelos sie sich gibt?“ Und ohne meine Antwort abzuwarten, streichelte sie dem Möbelstück zärtlich die Wangen. So nennt man im Fachjargon die senkrecht stehenden Bretter eines Regals. Gemessen an der alten Schrankwand ähnelte unsere neue Errungenschaft einer elfenhaften Balletttänzerin aus Schwanensee und sah aus, als würde sie jeden Augenblick abheben. Leider entging uns damals der Umstand, dass die sechs Wangen des Regalsystems jeweils nur mit wenigen Zentimetern fest auf dem Fußboden standen, der größte Teil der Auflageflächen hing quasi frei schwebend über den Bodenfliesen. Wie bei genannter Balletttänzerin. Konnte das auf Dauer gut­gehen?

Viereinhalb Jahre später kam schlagartig die Er­nüch­terung. Es war spät am Abend, als im rechten Teil unserer angeblich bis ins Detail perfekt hergestellten Systemwand Etano die gläsernen Regalböden mit lautem Getöse herunter krachten und die darauf abgestellten Kristallgläser größtenteils zerbrachen. Unser, zu musikalischer Kunst aus edlen Werkstoffen erstarrtes „überzeugendes Solitärmöbel“ hatte sich von seinen Fesseln befreit und sich zu nachtschlafender Zeit mit Pauken und Trompeten gemeldet.

Was war geschehen? Bei unserer nun nicht mehr ganz neuen „intelligenten-Konzept-für-die-Zu­kunft “­- ­Regalwand hatte sich im Laufe der Jahre die rechte Wange (Sie erinnern sich: tragendes Element) unmerklich so nach außen verbogen, dass der Zwischenraum für die Glasböden immer größer wurde, bis die in den Wangen befestigten Haltestifte ihre Funktion nicht mehr erfüllten.

Wie konnte sich bei dem im Prospektmaterial des Herstellers dokumentierten Qualitätsanspruch ein Seitenteil mit einer derartigen Folge verbiegen? Lag ein Produktionsfehler vor? Fragen, die zunächst einmal unser Möbellieferant klären sollte. Auch wenn die Gewährleistungsfrist von damals einem halben Jahr längst verstrichen war, hatte ich guten Grund zu der Annahme, dass mein Vertragspartner ein Interesse daran haben müsste, die Ursachen für diesen Crash festzustellen und den Schaden zu beseitigen. Immerhin handelte es sich um ein hochwertiges Möbelstück einer Markenfirma, von dem man als Käufer erwarten konnte, dass es nicht nach viereinhalb Jahren die Grätsche machte.

Was sich nun in den folgenden Monaten im Zusammenhang mit der Schadensbeseitigung abspielte, war ein unglaubliches Possenspiel. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Wir haben noch immer unsere „klassische, zeitlose, moderne, maßgeschneiderte und absolut variable Pötter-Systemwand“ (wie es in neuerem Prospektmaterial heißt)  in unserem Wohnzimmer stehen, allerdings mit nach wie vor verbogener Seitenwange und weiteren Mängeln, die sich während der Nachbesserungsarbeiten eingestellt hatten. Leider waren gesetzliche Ansprüche nach Ablauf der Gewährleistungsfrist erloschen, so dass wir auf die Kulanz von Hersteller und HändlerLieferant angewiesen waren. Dies bedeutete Entgegenkommen, Großzügigkeit und damit Abhängigkeit vom guten Willen unserer Vertragspartner. Leider hatten wir es versäumt, die Nachbesserungen vertraglich abzusichern, um ein mögliches Misslingen zu kompensieren.

Doch nun der Reihe nach. Nachdem ich dem Juniorchef unseres Einrichtungshauses den Sachverhalt geschildert hatte, arbeitete dieses gemeinsam mit der Herstellerfirma an einer kulanten Lösung. Sie sah zunächst so aus, dass die verbogene Seitenwange durch feste Verschraubungen mit neuen Glasböden gerade gezogen werden sollte. Unser Einrichtungshaus war nämlich der Meinung, die Wange könne wieder zurück gedrückt werden.

Das Vorhaben erschien mir recht abenteuerlich. Ich kramte in der Kiste meiner Physikkenntnisse und kam zu dem Schluss, dass diese Lösung nicht das Gelbe vom Ei war. Nach meiner Einschätzung würde die gewaltsam begradigte Wange einen starken Zug auf die Glasböden und auf die gegenüberliegende Wange ausüben. Sie würde wie eine Blattfeder wirken und in den gebogenen Zustand zurück streben.

Diese Befürchtung erläuterte ich dem maßgeblichen Mitarbeiter der Herstellerfirma und schlug vor, die verbogene Wange einfach gegen eine neue auszutauschen. Bei einem zeitlosen Standardprogramm sollte dies doch problemlos möglich sein. Mein Vorschlag war aber untauglich, weil der Fabrikant bei dem Modell Etano inzwischen die Maße geändert hatte. Unsere Systemwand gleichen Namens war also doch nicht zeitlos und ausbaufähig, sondern eher ein Auslaufmodell. Ich bedauerte, nicht gewartet zu haben, denn dann hätten wir ein aktuelleres Etano erstehen können, das als das „klassische, zeitlose, moderne, maßgeschneiderte und absolut variable Pötter-System entworfen wurde …  als  Feeling pur … mit Inspiration und charmanter Leichtigkeit …“

Nach längerem Hin und Her einigten wir uns schließlich, das betreffende Möbelteil ins Werk zu holen und dort zu begradigen. Mir wurde versichert, dass dies funktioniere und das Regalelement dann stabil sei.

Meine Frau konnte endlich wieder ihre Tränen trocknen. Die Angelegenheit hatte sie sehr mitgenommen. Gleichwohl hatte sie leise Befürchtungen, dass sich bei ihr kein Glücksgefühl mehr einstellen würde und Etano für sie auch nicht mehr „Ausdruck unbeschwerten Lebensgefühls“, geschweige denn reinste Inkarnation des mediterranen Soseins … sein könnte. Der Crash hatte Spuren in ihrer Seele hinterlassen, nicht nur wegen der zu Bruch gegangenen, unersetzbaren Kristallgläser.

Etwa zwei Wochen später wurde die begradigte Etano-Wange wieder angeliefert und montiert. Dabei stellte der Werksangehörige die vermutliche Ursache für die Verbiegung fest: Die Wange musste bei ihrer Erstmontage mit ihren „Zehenspitzen“ in eine Fliesenfuge gerutscht und so aus der Senkrechten geraten sein. Im Lauf der Jahre habe sie der dadurch bewirkten Spannung nachgegeben und sich verbogen. Wie gut, dass wir von einem Fachmann bedient wurden. Er zeigte sich nämlich sehr verwundert, dass bei der Systemwand keine Schienen zum Ausgleich von Bodenunebenheiten angebracht waren.

Nun war ich nicht mehr zu halten. Der Sache musste ich auf den Grund gehen. Auch meiner Frau zuliebe, wegen ihres verlorenen mediterranen Etano-Feelings. Wo waren die Ausgleichschienen geblieben? Sie standen zwar als Position auf der Rechnung, waren aber nicht montiert worden. Ich inspizierte unsere Etanowand noch einmal von Kopf bis Fuß und war sehr überrascht, dass sich die Befestigungs­vorrichtungen für die vermissten Höhenversteller an den oberen Kanten der Wangen befanden. Jetzt schwante mir, was geschehen war: Das Montageteam unseres Möbellieferanten konnte wohl mit diesen Schienen nichts anfangen oder war der Auffassung des Herstellers, der mir auf eine diesbezügliche Frage schriftlich mitteilte: „Die Standfestigkeit der Wangen ist ohne Höhenversteller eher größer als geringer.“ Nun war ich doch etwas baff. Eine Firma verkauft für teures Geld Vorrichtungen zum Ausgleich von Bodenunebenheiten, obwohl sie überflüssig sind, versieht aber die Wangen mit entsprechenden Befestigungsdübeln. Dabei war bei einem der Elemente an den Einschraubstellen dieser Dübel das Holz gespalten und mithin beschädigt. Vielleicht war das der Grund dafür, dass die tragenden Regalelemente um 180 Grad verdreht aufgestellt wurden.

Die Sache mit der seltsamen Montage wäre ein zu verschmerzender Umstand gewesen, wenn sich die angeblich begradigte Seitenwange nicht wieder zurück gebogen hätte. Es dauerte etwa zwei Wochen, da splitterten die mit den Seitenwänden fest verschraubten Glasböden an den Befestigungen. Die scheinbar professionell begradigte Wange war sehr eigensinnig. Sie wirkte tatsächlich wie eine Feder und übte einen enormen Zug auf die Glasböden und andere Regalteile aus. Meine Frau klopfte mir auf die Schultern und lobte mich, weil ich im Physikunterricht so gut aufgepasst hatte. Sie meinte, die Spezialisten aus Möbelproduktion und Möbelhandel hätten dies eigentlich auch wissen müssen.

Wieder suchten die Möbelfachleute nach einer Lösung. Die bestand jetzt darin, eine neue Wange als Sonderanfertigung zu liefern. Hierfür sollte jede Partei ein Drittel der Kosten übernehmen, also 220 Euro. Ein teures Brett in unseren Augen. Diesen Vorstellungen mochten wir verständlicherweise nicht folgen. Immerhin hatten wir schon das Dutzend Kristallgläser zu verschmerzen. Ich versuchte, dem Juniorchef des Einrichtungshauses die Fehlleistungen seines Montageteams zu verklickern und bat ihn dringend um eine kundenfreundlichere Lösung. Vergebens. Der Fall eskalierte und endete in einem Verfahren beim Amtsgericht. Dort prüfte der Richter unsere Ansprüche und stellte fest, dass wir keine mehr geltend machen könnten, wegen verstrichener Gewährleistung.

Selbst die schadenvertiefenden Nach­bes­serungen seien nicht einklagbar, weil es sich um eine Kulanz- und nicht um eine Vertrags­angelegenheit handelte.

Wir stimmten auf Anraten unseres Anwalts notgedrungen einem Vergleich zu, der darin bestand, dass uns der Möbelhändler 220 Euro für den erlittenen Schaden anbot. Nun, der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Wir nahmen das Geld, sozusagen als Erstattung der bislang vorenthaltenen, von uns bezahlten, aber überflüssigen Ausgleichschienen und genehmigten uns davon ein weinseliges Wochenende an der Ahr. Wenigstens diesen Ausgleich wollten wir uns gönnen.

Wieder zu Hause bei unserer einst so geliebten Etanowand angekommen, unterdrückte meine Frau tapfer ihre Enttäuschung und meinte, dass sie nun überhaupt keine Freude mehr an diesem Möbelstück hätte. Ich musste ihr zustimmen. An mehreren Stellen hatten sich nämlich Spalten gebildet, eine Schiebetür („aus satiniertem Glas, alugefasst“) klemmte und auch andere Wangenbretter fingen an, die Senkrechte zu verlassen. Die kulanten Nachbesserungen von Möbelhersteller und Möbelhändler haben ihre Spuren hinterlassen.

Neuerdings träume ich davon, dass sich unsere Regalwand bald so gerundet haben wird, dass sie als Kunstwerk (wie von Luigi Colani geschaffen) in die Möbelgeschichte eingehen wird. Die Herstellerfirma hatte es nämlich abgelehnt, uns weiter zu unterstützen und ihr Angebot, die­­ Wange­ auszutauschen, zurückgenommen. Ganz nach der Ankündigung ihres Mitarbeiters für den Fall, dass wir eine gerichtliche Klärung anstreben sollten. Mehr noch, sie ließ uns über unseren Anwalt wissen, dass sie sich vorbehielte, die ihr bisher entstandenen Kosten (für die Verschlimmbesserung) noch zu berechnen. Seltsam, wie wenig Interesse erkennbar gewesen ist, die Ursachen für die Verbiegung des „edlen Holzes“­ der Etanowand zu erforschen. Vielleicht lag es an ihrer Eigenschaft „Auslaufmodell“.

Wir könnten uns jetzt beim Anblick dieser aus den Fugen geratenen und nicht mehr zeitlosen Errungenschaft den ganzen Tag über ärgern, sind aber nicht dazu verpflichtet. Dass wir uns von dieser Möbelzitrone bei nächster Gelegenheit trennen werden, ist zu vermuten. Ein Ersatz ist noch nicht ins Auge gefasst. Möglicherweise folgen wir dem Trend der Zeit und schaffen uns eine Regalwand aus Pappe an. Sie wird wahrscheinlich auch dem Anspruch gesetzlicher Gewährleistungsfristen genügen und ist im Vergleich zu unserem „ästhetischen Evolutionsmöbel“ namens Etano  wesentlich billiger.

Voller Hochachtung verneigen wir uns jetzt mehrmals täglich vor unserem preiswerten Regalsystem Billy (von Ikea), das seit zehn Jahren klaglos als Bücherschrank fungiert. Billy ist einfach nicht kaputt zu kriegen. Es ist eigenartig, aber bei mir stellt sich neuerdings immer ein gewisses Feeling ein, wenn ich mir ein Buch aus diesem Regal nehme. Es ist zwar noch kein „Feeling pur“, aber immerhin …